Was Intuition von Imagination unterscheidet

Sogenannte Semantische Netze im menschlichen Gehirn und Gedächtnis repräsentieren das deklarative Wissen einer Person, das so organisiert ist, dass Konzepte (Knoten) durch Beziehungen (Links) verbunden sind. Das semantische Netz eines Experten ist gut organisiert und im Umfang größer als das eines „Neulings“. Daher wird es für einen Experten schneller gehen, zu einer spezifischeren Bestimmung eines Kontextes zu gelangen. Ein Experte hat bereits Verbindungen geschaffen, die es ihm erlauben, Beziehungen untereinander zu erkennen, wenn in einer bestimmten Situation Entscheidungen zu treffen sind. (Salas, Rosen et al. 2010) Schemata sind eine weitere Möglichkeit, wie Wissen organisiert werden kann. Im Gegensatz zu semantischen Netzen wo man davon ausgeht, dass Teile des Wissens miteinander verbunden sind, stellen Schemata Muster dar. Wenn Informationen abgerufen werden, werden sie als Muster abgerufen und nicht basierend auf Verbindungen. Mustererkennung vergleicht die Bewertung einer Situation mit früheren Erfahrungen und führt dazu, dass eine mögliche Handlungsweise, die in der Vergangenheit erfolgreich war, wiedergefunden wird. (Salas, Rosen et al. 2010) Diese Muster werden durch Erfahrungen entwickelt; daher können sie sich ändern und wachsen mit dem Erwerb neuer Informationen.

Teil des Systems ohne vollständiges Wissen

Ähnlichkeiten zu neuronalen Netzen der Künstlichen Intelligenz drängen sich hier geradezu auf. Auch neuronale Netze werden trainiert, um Muster zu erkennen, Dinge einander zuzuordnen und daraus Handlungsoptionen abzuleiten, die am besten zum vorgegebenen Ziel passen. Wenn es auch viele Unterschiede zwischen neuronalen Netzen und menschlicher Intuition in ihren Domänen und Ausprägungen gibt, ist diese grundlegend gleiche Lern- und Verarbeitungsweise durchaus bemerkens- und in der Folge immer wieder bedenkenswert. Denn bei allen Ähnlichkeiten im Prinzip sind Künstliche Intelligenz und menschliche Intuition eben nicht für die gleichen Aufgaben und Entscheidungen gut geeignet.  

Das bedeutet: In der Natur und bei KI stehen wir als „Nutzer“ oder Teil des Systems vor dem gleichen Phänomen. Den vielfältigen unbewussten Prozessen, von Wahrnehmung bis zum impliziten Lernen, ist eines gemein: Der Mensch kann nicht bewusst Auskunft über sie geben. „Intuition ist schnell (oft als sofortig bezeichnet), spontan (erfordert keine Anstrengung und kann nicht absichtlich gesteuert werden) und ist alogisch (was bedeutet, dass es nicht unbedingt den Regeln der Logik widerspricht, ihnen aber auch nicht folgt). Das Ergebnis des intuitiven Prozesses ist stillschweigend (da die Intuitiven nicht erklären können, wie sie zu den Ergebnissen gekommen sind), ganzheitlich (oft auch als Gestalt bezeichnet, da es sich um die Gesamtheit einer Situation und nicht um Teile davon handelt) und der Intuitionär ist von seiner Intuition überzeugt (ohne ersichtlichen Grund im Sinne von Beweisen).“ (Dörfler, Ackermann 2012) Anzufügen ist hier: Wir müssen auch nicht alle Details verstehen. Wichtig ist, dass wir fähig und sicher genug sind, die eigenen Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen.

Imagination baut auf Intuition auf

Doch wann haben wir es mit einer Intuition zu tun? Und wann mit einer „Imagination“, also einer wunschhaften oder phantastischen Vorstellung. Mamin (2020) befasst sich eingehend mir dieser Frage. Imagination kann demnach als Manifestation (im Sinne einer imagery) einer entsprechenden Intuition bezeichnet werden, wenn sie bestimmte für die Intuition charakteristischen phänomenalen Merkmale der Unmittelbarkeit und Gewissheit aufweist. Bereits Beveridge (1957) beschrieb diese Merkmale: „Die charakteristischsten Umstände einer Intuition sind eine Periode intensiver Arbeit an dem Problem, begleitet von dem Wunsch nach seiner Lösung, das Verlassen der Arbeit, vielleicht mit Aufmerksamkeit für etwas anderes, dann das Auftauchen der Idee mit dramatischer Plötzlichkeit und oft mit einem Gefühl der Gewissheit.“ Imagination ersetzt also nicht die Intuition, sondern baut auf dieser auf. 

Eine Frage der "Realitätssensitivität"

Der Schlüssel zum Verständnis liegt nach Mamin in der unterschiedlichen Realitätssensitivität von Intuition und Imagination. Darunter sei zu verstehen, dass sich ein Subjekt seine Intuitionen nicht ausdenkt, sondern diese einen Ausschnitt der vorhandenen Welt für das Subjekt wiedergeben, was bei der Imagination nicht der Fall ist: Diese wird durch das Subjekt quasi neu erstellt. Im Unterschied zur Imagination ist Intuition realitätssensitiv. Der Gehalt unserer Intuitionen hängt von Gegebenheiten ab, was aber nicht heißt, dass Intuitionen veridisch sind, wie Beispiele fehlgeleiteter Intuitionen zeigen. Auch ist damit nicht gemeint, dass wir alles, was wir intuitiv erfassen, für wahr halten. Besser lässt sich die Bedeutung von „Realitätssensitivität“ klären, indem daran erinnert wird, dass Intuitionen Neigungen zu Überzeugungen konstituieren. Demnach können auf der nichtpropositionalen Grundlage von Intuitionen propositionale intuitive Überzeugungen aufbauen (Mamin 2020). Deswegen müssen Intuitionen stets kritisch hinterfragt werden. Denn sie beruhen auf Interpretationen unserer Realität, die nicht unbedingt immer „richtig“ sein müssen. Auf den Aspekt der „Realität“ und unserer Wahrnehmung dieser gehen andere Beiträge bei „TheEssence“ noch genauer ein.