Intuition und Rationalität – Die Pointe des Mensch-Seins

Es existiert eine Balance von Intuition und Rationalem Denken. Intuitives Wissen teilt Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen und ihres impliziten Wissens Urteile über Situationen mit. Dieser unbewusste Denkprozess kann und sollte – bis zu einem gewissen Grad – mit dem rationalen Denken rückgekoppelt werden. Bis zu einem gewissen Grad deswegen, weil das rationale Denken die Wege und Gründe der intuitiven Erkenntnis nicht genau nachvollziehen kann. Es gibt also keinen Monokausalismus, also nur das eine oder das andere. Die Balance aus beiden Arten und Wegen des Denkens ist für viele Wissenschaftler, Denker und Entscheider sogar die Pointe des Menschseins. Trotzdem begegnen wir einer mehr oder weniger absoluten Autoritätsfunktion des Kopfes in unserer heutigen Wirtschaft und Gesellschaft. Das Rationale ist akzeptiert, ihm wird vertraut. Rationale Begründungen und Rechtfertigungen werden gefordert – „Listen to the Scientists!“. Das hat Folgen: In den meisten Unternehmen und den meisten Arbeitsplätzen ist Kreativität weder notwendig, noch gewünscht. Es dominiert ein ausgeprägtes Sicherheits- und Planungsdenken. Man kann hier durchaus von einer Einschichtigkeit oder gar Einfältigkeit sprechen. Ein großer Teil von uns Menschen - oder besser unserer menschlichen Fähigkeiten -  kommt nicht zu Wort. Hier wird viel Potenzial verschenkt. Denn es sind doch gerade diese menschlichen Domänen, die mit technischen und digitalen Systemen kooperativ exponentielle Ergebnisse bringen, wie später in dieser Untersuchung noch ausgeführt und belegt werden wird.

Wie die Domäne der Intuition funktioniert

Wie funktioniert nun diese menschliche Domäne der Intuition?

Den gerade beschriebenen (scheinbaren) Gegensatz zwischen rationalem Denken und Intuition versucht Wilke (2020) bewusst aufzulösen, indem er von der „Rationalität der Intuition“ spricht. Nicht mehr die Ahnen, die Götter, die Tradition oder die Natur lenkten das Verhalten des Menschen, sondern der Mensch selbst könne sich heute zwischen alternativen Möglichkeiten nach seinen eigenen Kriterien oder Präferenzen entscheiden. Die modernen Entscheidungstheorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts radikalisierten diese Position. Sie gehen von klar erkennbaren Zwecken des menschlichen Handelns aus und postulieren sogar eine Konsistenz und eine Transitivität von Zwecken. Damit gelinge es vor allem der Ökonomik, ein konsistentes Modell des rationalen homo oeconomicus zu entwerfen, der mit voller Entscheidungsfreiheit seine Zwecke setzt und zwischen verschiedenen Zwecken und alternativen Mitteln der Zweckerreichung kühl kalkulierend entscheidet und auf Intuition nicht mehr angewiesen sei . Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Menschen und Organisationen heute KI basierte Systeme entwickeln und nutzen, die ihnen gerade dabei helfen sollen, in der Vielzahl der Möglichkeiten, Präferenzen und Kriterien, die „optimale“ Lösung zu finden. Offenbar scheint die Entscheidungsfreiheit, scheint die Vielfalt der Optionen und scheint die Menge an Informationen das rationale Denken von Menschen zu überfordern, so dass sie extrem rationale und „Intelligente“ Maschinen und Systeme einsetzen müssen, um diesen Aufgabe den Menschen abzunehmen, die doch nach obiger Lesart und Definition ihre ureigenste Domäne sein sollte. Mit diesen Entwicklungen werde deutlicher als zuvor, so Wilke, dass Intuition primär die Umschreibung für ein Unvermögen ist – das Unvermögen, in bestimmten Konstellationen begründet zu entscheiden. Damit ist Intuition nicht wertlos oder irrelevant.

Vielmehr nimmt sie einen begründeten Platz genau dort ein, wo Begründungen fehlen. Insbesondere Daniel Kahneman habe diesen Hintergrund ausführlich analysiert und den Zusammenhang von Intuition und Erfahrung als „Intuition as recognition“ beschrieben, indem er Herbert Simon zitiert: „Intuition is nothing more and nothing less than recognition“ (Kahneman 2011). „Wiedererkannt“ werden dabei erlebte Erfahrungen und erworbene Fähigkeiten („acquired skills“), die als implizites Wissen gespeichert und verfügbar sind.

Der Zusammenhang von Macht und Intuition

Wilke unterscheidet hierbei zwischen Macht und Wissen. „Macht macht entscheidungsfähig, während Wissen die Dinge verkompliziert und (wie dann bei Hamlet) geradezu unfähig zur Entscheidung macht.“ (Wilke 2020) Demnach gibt es einen Zusammenhang zwischen der Akzeptanz und Umsetzung von Intuition und Entscheidungen und der faktischen oder empfundenen Macht. Wenn Menschen Macht besitzen oder meinen, sie zu besitzen, so verlassen sie sich eher oder sogar komplett auf ihre Intuition(en). Das ist relativ einfach nachvollziehbar: Wer Macht hat, muss sich nicht rechtfertigen. Schon wenig Wissen reicht aus, um Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen, zu handeln. Wer dagegen in einer Hierarchie eher machtlos ist, der muss sich umso öfter rechtfertigen und seine oder ihre Entscheidungen begründen und belegen. Für Intuition ist es aber nun mal typisch, dass sie sich nicht genau begründen lässt. Deswegen wird tendenziell immer mehr Wissen, im Sinne von Daten und Fakten, gesammelt, um besonders gut rational begründen zu können. Das bewirkt aber eine zunehmende Lähmung und Handlungsunfähigkeit. Denn ab einer bestimmten Menge bringen zusätzliche Informationen keinen Erkenntnisgewinn mehr für Menschen mit sich, sondern verunsichern nur noch weiter. Dagegen werden die Ergebnisse von Maschinen, gerade KI Systemen, mit zunehmender Datenmenge immer genauer und belastbarer. Das führt dazu, dass Menschen eher dazu bereit sein dürften, Entscheidungen an Maschinen abzugeben. Das hat zwei „Vorteile“: 1. Maschinen haben im Zweifel keine Handlungsblockaden, wie wir (verwirrten) Menschen. Sie exekutieren einfach, sobald die statistische Belastbarkeit der Daten einen kritischen Schwellenwert übersteigt. 2. Menschen müsse keine Verantwortung mehr für schwer oder letztlich nicht objektiv begründbare Entscheidungen übernehmen. 

Die Bereitschaft "Nein" zu sagen

Doch wenn Unternehmen, Organisationen und die Gesellschaft im allgemeinen nicht will, dass Maschinen möglichst viel oder sogar alles entscheiden, dann können sich Menschen nicht aus dieser Verantwortung herausziehen. Das führt zu einem Paradox, das auch Wilke beschreibt. Man muss Menschen ein Ja zur Bereitschaft abringen, Nein zu sagen. Diese Bereitschaft sei anspruchsvoll, weil sie sich auf Situationen und Konstellationen bezieht, die unvermeidbar intransparent und unkontrollierbar sind, und die Entscheider, die nein sagen, können nicht wissen, was sie damit für sich und ihre Organisation anrichten. Aber genau um dieses bewusst eingegangene Risiko der Verstörung geht es, so Wilke. Hier geht es um eine persönliche Robustheit in uns Menschen, besonders dann, wenn wir Entscheidungen treffen müssen – vielleicht sogar gegen die rechnerisch optimale Voraussage und Empfehlung von intelligenten Maschinen. Wilke sieht ebenfalls einen starken Zusammenhang zwischen Intuition und sozialer Intelligenz. Diesen Zusammenhang finden wir in anderen Artikeln von „TheEssence“ oft wieder, da die Fähigkeit zur Empathie entscheidend ist für die Fähigkeit zur Intuition und zum intuitiven Entscheiden. Erfahrungen im Umgang mit komplexen Kommunikationskonstellationen, die immer mehrere Menschen umfassen und in diesem Sinne soziale Konstellationen sind, werden als implizites Wissen gespeichert. Je mehr Erfahrung jemand darin hat, bis hin zu professioneller Schulung, Ausbildung und Praxis bezüglich solcher Konstellationen, desto leichter fällt es, in entsprechenden Situationen intuitiv zu entscheiden – was dann konkret nichts anderes heißt, als dass jemand in der Lage ist, sein oder ihr angesammeltes Erfahrungswissen zu aktivieren und für schnelle Entscheidungen zu nutzen.