Intuition – In allen Kulturen der Welt eine rationale Methode

Interessanterweise bedeutet die heute wieder zumindest teilweise Akzeptanz als Entscheidungsmethode heute, eine Art Rückkehr zum alten Verständnis der Antike und des Mittelalters. In alten Kulturen, wie Griechenland, Rom, Byzanz, im europäischen Mittelalter, nutzten Menschen Rationalität, Informationen, Analysen, Beratungen und Diskussionen für Entscheidungen. Das gleiche galt auch in anderen sogenannten Hochkulturen wie Maya und Azteken, Perser, Assyrer. Ebenso im sogenannten Fernen Osten wie der Mongolei, in den chinesischen Kaiserreichen oder auch Japan. Das spiegelt sich in allen Quellen und Zeugnissen aus diesen Epochen und Kulturen wieder. In religiösen Texten wie beispielsweise dem Alten und dem Neuen Testament können wir das in unserem westlichen, abendländischen Kulturkreis mehr oder weniger unverändert so nachlesen. All diesen Epochen und Kulturen ist noch etwas gemein: Es war immer und überall „rational“ und selbstverständlich alle möglichen Arten von Orakeln zu befragen. Das gilt interessanterweise für alle Kulturen der Vergangenheit, die aber zu großen Teilen nichts miteinander zu tun hatten. Es gibt nichts was die südamerikanischen Kulturen zur Zeit der „Entdeckung Amerikas“ mit den germanischen Kulturen der Römerzeit verbindet. Und diese wiederum haben keine Verbindung zu den chinesischen Kulturen der Ming oder Khin Dynastien. Trotzdem bildeten alle sehr ähnliche Techniken der Entscheidungsfindung heraus, die sich mehr oder weniger nur in Details unterscheiden

Intuition war in allen Kulturen zu allen Zeiten akzeptiert

Das taten die Menschen in diesen Zeiten und Kulturen immer dann, wenn ihnen klar war, dass ihr rationales Denken bei Problemen oder Gefahren an Grenzen stößt. Offenbar waren dann andere Daten und Informationen notwendig, um eine komplette und holistische Sicht und „Erkenntnis“ zu erzeugen beziehungsweise zu finden. Diese „göttlichen Zeichen“ oder Divinationen hatten einen großen Wert und große Akzeptanz. Wahrscheinlich stammen die Bezeichnungen und Umschreibungen von Intuition heute als eine Art „göttliche Eingebung“ aus diesem alten und archaischen Verständnis. Nur dass wir heute meist einen Gegensatz zwischen Rationalität und Intuition sehen, während dies damals sehr deutlich als eine Komplementarität verstanden wurde. 

Für diese gesellschaftliche Akzeptanz von Orakeln und Intuition als wertvolles Wissen und Erkenntnis gibt es drei Erklärungen. 

    • Erstens: Weil eine Elite in Gesellschaften propagierte, dass göttliche Zeichen existierten und das Handeln danach erfolgreich war, glaubten auch „die Massen“ daran. Einfach weil sie annahmen, dass die Eliten nun einmal schlauer seien und „geheimes Wissen“ besaßen, dem man vertrauen musste. Und gleichzeitig unterlagen die Eliten einer Art Selbst-Suggestion und glaubten auch selbst daran, was sie propagierten: Divinationen funktionieren. 
    • Zweitens: Menschen in alten Kulturen waren aufgrund ihrer, im Vergleich zu heute, sehr geringen formalen Bildung sehr abergläubisch. Und Aberglaube befördert das unkritische Akzeptieren von Divinationen.
    • Drittens: Alle Kulturen bilden mit der Zeit ganz eigene, sehr spezielle und teils bizarre Kulturtechniken oder Kulte aus, die in der historischen Rückschau schwer oder überhaupt nicht verständlich und nachvollziehbar wirken. 

Eine andere Wahrnehmung der "realen" Welt

Alle drei Erklärungen geben aber keine Antwort auf die kurz zuvor beschriebene Tatsache, dass sich solche divinatorischen Techniken in ganz verschiedenen Kulturen, an ganz verschiedenen Orten zu ganz verschiedenen Zeiten immer wieder ausbildeten. Das spricht dafür, dass wir es hier nicht mit einem kulturellen Phänomen, sondern mit einem (evolutions-)biologisch-menschlichen Phänomen zu tun haben. In der Tat haben die Techniken der historischen Divination viel mit nicht bewusstem Denken oder Intuition gemein. Es geht stets um schnelle Erkenntnisse in einem Moment – zum Beispiel das Interpretieren von Innereien von geopferten Tieren oder des Vogelflugs in einem bestimmten Moment oder das Interpretieren von plötzlich auftretenden Rissen in Schildkrötenpanzern im Feuer. Es geht stets um den Wechsel zwischen fokussiertem diskursivem Denken und nicht diskursivem Wirken lassen von Eindrücken – zum Beispiel bei einem Gebet oder einem Opfer an Gottheiten und dem Warten auf irgendeine Art von Manifestation der „Antwort“ in der Zukunft in einem unbekannten und meist überraschenden Augenblick. Es geht stets um die Erfahrung von Interaktion mit anderen Menschen, Lebewesen oder Naturgewalten auf allen Ebenen der körperlichen und geistigen Wahrnehmung – zum Beispiel bei der Befragung eines menschlichen Orakels auch auf deren Stimme, Körperhaltung, Mikroexpressionen, Bewegungen und auch weitere Töne der Umgebung, den Wind, das Licht oder auch eventuell Tiere und Pflanzen zu achten und diese als Teil der „Botschaft“ wahrzunehmen.

Räume schaffen für andere Arten des Denkens

Die historischen Techniken der Divination können als Möglichkeiten verstanden werden, mit denen Menschen absichtlich Räume schaffen wollten und konnten, um nicht diskursives Denken zu ermöglichen und nicht deliberatives Wissen zugänglich zu machen. Es ging darum eine Pause im bewussten, reflektierten und diskursiven Denken zu machen. Und es war in diesen Formen gesellschaftlich akzeptiert. Die Menschen dieser historischen Vergangenheiten hätten das natürlich nie selbst so beschrieben. Sehr wahrscheinlich auch nicht so verstanden oder interpretiert, weil ihnen schlicht die Erkenntnisse fehlten die Hirnforschung, Neurowissenschaften, Psychologie und Verhaltensbiologie in den vergangenen Jahrzehnten hervorgebracht haben. Sie hätten wahrscheinlich einfach gesagt, dass sie das tun, weil es funktioniert. Der US-Amerikanische Historiker und Professor für das klassische Altertum, Peter Struck, formuliert das oben beschriebene in einem eigenen Axiom: „Our ability to know ecxeeds our capacity to understand that ability.” (Struck 2016) Und er leitet daraus ab: Wir werden immer mysteriös für uns selbst bleiben. Genau diese Mysteriösität macht die Faszination von menschlicher Intuition aus.