Die Realität ist nur die „Halluzination“ unseres Gehirns

Unsere Wahrnehmungen spielen also für unsere Intuition(en) eine zentrale Rolle. Doch es gibt hier ein „Problem“. Unsere Wahrnehmungen entsprechen nicht der „Wahrheit“, nicht dem, was wir gemeinhin unter „Realität“ verstehen. Und deswegen kann unser rationales Denken auch gar keine Wahrheiten erkennen oder gar beweisen.  Anil Seth, Professor für Cognitive and Computational Neuroscience an der University of Sussex – also eine genau passende Kombination für das Thema – vertritt die These:  Wenn das menschliche Hirn die Realität „halluziniert“, dann können und dürfen wir uns gar nicht (nur) auf unsere Rationalität und das bewusste Denken verlassen. Denn dann unterliegen wir ständigen Fehlschlüssen zu Zusammenhängen oder eben vermeintlichen Zusammenhängen. Die „Realität“, wie wir sie in unserem bewussten Geist, mit unserer Rationalität wahrzunehmen meinen, ist demzufolge lediglich ein Konstrukt aus verschiedenen Reizen und Informationen. Wir nehmen zwar sehr viele Reize und Informationen auf – merken das aber nur zu einem Bruchteil bewusst. Deswegen sei auch unser Denken vielschichtiger und eben nicht rein rational und bewusst. Ein Großteil unseres Denkens und Verstehens speist sich aus der Vielzahl an Informationen und Wahrnehmungen, die wir nicht bewusst erleben und verarbeiten und sei deshalb auch zu viel mehr in der Lage, als wir es dem rationalen Geist zugestehen wollen und können. 

Wie unser Gehirn halluziniert

Ein lebendiger Körper ist für Seth die Grundlage für Bewusstsein in Menschen. Eine wie auch immer definierte „Intelligenz“ alleine ist nicht ausreichend für Bewusstsein. Maschinen, Systeme und Künstliche Intelligenz(en) können demnach also nie Bewusstsein entwickeln. Bewusstsein bedeutet die Wahrnehmung der Umwelt immer in Verbindung mit der Wahrnehmung der eigenen Existenz. 

Das menschliche Hirn nimmt Reize aus verschiedenen Quellen der Umwelt wahr und macht eine Voraussage, was es wohl ist, das wir das wahrnehmen. Alle Voraussagen des Gehirns beruhen auf vorherigen Wahrnehmungen, die Menschen gemacht haben. Diese Wahrnehmungen können alte und bekannte sein oder auch ganz neue Wahrnehmungen, die nur ein paar Sekunden oder Minuten zurückliegen können. Diese Voraussagen und Abschätzungen des Gehirns, sind das, was Seth „Halluzinationen“ nennt. Das bedeutet zunächst: Die objektiv absolut selben Signale können von Menschen erkannt und verstanden werden - oder auch nicht. Das Erkennen und Verstehen hängt davon ab, ob es eine Erinnerung oder Erfahrung als Vorlage oder Abgleich gibt. Hier lässt sich bereits ein Zusammenhang mit Intuition erkennen. Intuitive Erkenntnis und intuitives Verstehen funktioniert nur dann, wenn Menschen bereits Erfahrungen in der Sache haben, um die es jeweils geht und die Verlässlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und Richtigkeit der Intuition im Sinne einer späteren Bestätigung steigt mit der Erfahrung des Menschen. 

Reize werden gelernt und dann zugeordnet

Menschen „halluzinieren“ also ihre Wahrnehmungen. Und das auch noch immer und überall. Wenn wir Menschen diese Halluzinationen akzeptieren, dann nennen wir das „die Realität“. Auch die Wahrnehmung unseres Körpers und unserer Körperlichkeit an sich, sind abhängig von Zuordnungen und Identifikationen, die unser Gehirn für uns unbewusst vornimmt. So können Menschen beispielsweise Attrappen oder Nachbildungen ihrer Körperteile als eigene Körperteile wahrnehmen oder vielmehr im Gehirn interpretieren oder halluzinieren, wenn es vorher entsprechende Erfahrungen gegeben hat, die im Gehirn verankert sind. Beispielsweise kann das gleichzeitige Reizen der Hand eines Menschen und einer Handattrappe durch Berührungen dazu führen, dass der Mensch die Handattrappe als eigene Hand wahrnimmt, wenn er die gleichzeitige Reizung der eigenen Hand und der Attrappe zuvor gesehen und (mit der eigenen Hand) gefühlt hat. Dass bedeutet: Auch Signale und Reize außerhalb des Körpers können vom Gehirn dem eigenen menschlichen Körper zugeordnet werden und Reaktionen auslösen. Menschen können also prinzipiell Dinge und Zustände in der Umwelt wahrnehmen, wenn das Gehirn gelernt hat, diese Reize und Zustände zuzuordnen und zu interpretieren und zu kategorisieren. Auch das beinhaltet wichtige Erkenntnisse für das Verständnis von Intuition im Zusammenhang mit Empathie, Verbundenheit und Umwelt- und Naturerfahrungen. Ale diese Dinge fördern die menschliche Intuition und den Umgang mit der Intuition. 

Körperlichkeit ermöglicht erst Bewusstsein und Verstehen

Wir Menschen nehmen die äußere Welt in Objekten war. Die innere Wahrnehmung von Dingen und Zuständen manifestiert sich für uns als Kreisläufe und Bedürfnisse (des Körpers) und die Regulierung dieser in einem balancierten Zustand. Beides – Objekte und Kreisläufe – sind gleich reale Wahrnehmungen. Wir müssen also Objekte und Daten wahrnehmen, zugleich aber auch Kreisläufe und Bedürfnisse, Abhängigkeiten und Notwendigkeiten, denn nur so ist eine Balance erreichbar. Dieser Gedanke ist sehr entscheidend für spätere Überlegungen zu Kriterien und Zielen wie Resilienz, Robustheit und Nachhaltigkeit mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz und mit Hilfe von menschlicher Intuition. Das Erste – Aufnehmen und Verarbeiten von Daten und Objekten – ist die Domäne von Maschinen und KI. Das zweite ist die menschliche Domäne, die wegen der fehlenden lebendigen Körperlichkeit niemals von Maschinen geleistet werden kann, also von Menschen geleistet werden muss. Das bedeutet auch: Menschen sollten nicht versuchen oder gezwungen werden, wie Maschinen zu denken und zu handeln. Das kann und wird niemals funktionieren und mittel- und langfristig mehr Schaden als Gewinn bedeuten.