In komplexen Situationen kann nur die Intuition entscheiden
Warum ist es nun hilfreich auf Heuristiken und Intuition zurückzugreifen, gerade wenn es um komplexe Zusammenhänge und Entscheidungen geht? Das liegt an der sogenannten kombinatorischen Explosion in einfachen Entscheidungssituation. Ab einem bestimmten Grad der Interdependenzen entstehen bei Entscheidungen mehr oder weniger unendlich vielen möglichen Szenarien. Rational können alle diese möglichen Szenarien nicht von Menschen erfasst, verstanden und verglichen werden. Zudem sind Informationen ungenau. Wir wissen nicht, was wir wissen und vor allem nicht, was wir nicht wissen. Die Interdependenzen sind ebenfalls für uns nicht bekannt. Deswegen kann es keine vollständigen Entscheidungen bei vollständiger Information geben.
Die menschliche Intuition ist vor diesem Hintergrund eben kein Gefühl, sondern ein vorbewusster Informationsverarbeitungsprozess, dessen Ergebnis gleich einem Gefühl dem Bewusstsein mitgeteilt wird. Wegen dieser Verwechselbarkeit mit einem Gefühl neigen Menschen zu den beschriebenen Ex-Post Rationalisierungen als rationalem – aber falschem – Begründungsprozess.
Situationen für intuitive Entscheidungen
Diese vorbewussten Informationsverarbeitungsprozesse oder Intuition bei komplexen Entscheidungen sind sinnvolle Strategien in folgenden Situationen:
1. Wenn es darum geht, sich schnell entscheiden zu müssen. Menschen nutzen hier für intuitive Urteile unbewusst ein eigenes Anspruchsniveau gegenüber einer Sache oder einer Situation. Dafür werden sogenannte Explore- und Exploitphasen aufgrund der Erfahrungen und unbewusster Kalibrierung durchlaufen. Nach dieser Kalibrierung manifestiert sich das intuitive Urteil für etwas, durch und mit dem Überspringen des unbewussten Anspruchsniveaus. Ist das geschehen, so sollten wir diese „Entscheidung“ akzeptieren und sie nicht in der Folge durch pseudo-rationale Kritiken und Prüfungen zerdenken.
2. Wenn es darum geht einmal „darüber zu schlafen“; wenn es also um ein bewusstes Bremsen geht und darum, die eigene Intuition in einer komplexen Situation arbeiten zu lassen. Solche Abwägungsprozesse brauchen Zeit und absichtliche Bewusstseinspausen, in denen das Erfahrungswissen angezapft werden und dann ein Ergebnis geliefert werden kann.
3. Wenn es darum geht, Entscheidungen vorstellbar und fühlbar machen. Dieses genaue Vorstellen der möglichen Entscheidungen und ihrer absehbaren Konsequenzen macht Menschen bewusst, wie sich verschiedene komplexe Entscheidungsvarianten anfühlen. Dies gilt vor allem bei großen und seltenen Entscheidungen im Leben oder im Beruf. Hier ist es wichtig, dieses intuitive Gefühl, nicht mit Angst oder Hoffnung zu verwechseln, die sich bei derartigen Entscheidungen auch immer einstellen.
Komplexität und Emotionen
Gerade wenn es um komplexe und unsichere Entscheidungen geht verlagern sich interessanterweise die Perspektiven auch in der KI-Forschung und Entwicklung zunehmend auf einen menschenzentrierten Ansatz. Das liegt an der beschriebenen Überforderung des Menschen durch riesige Informations- und Datenmengen und Kombinationsexplosionen – und der gleichzeitigen Fähigkeit, diese Probleme durch intuitives Analysieren und Verstehen zu umgehen. Menschen denken anders als Maschinen arbeiten. Aufgrund der intrinsischen Unvorhersehbarkeit eines Risikoereignisses oder des mangelnden Wissens der menschlichen Entscheidungsträger sind viele Muster in historischen Daten für Menschen zunächst einmal unerklärlich. Infolgedessen sind in Maschinen und KI-Modellen kompliziertere Algorithmen erforderlich, um relevante Erkenntnisse zu beschreiben und vorherzusagen. Diese wiederum müssen aber für Menschen verständlich und erklärbar sein, damit sie akzeptiert werden. (Amann et al. 2020) Bei KI-Modellen für komplexe Probleme und der menschlichen Intuition besteht also dasselbe Problem: So ohne weiteres erklärbar und nachvollziehbar sind beide nicht. Wenn menschliche und maschinelle Urteile voneinander abweichen, müssen die Maschinen in der Lage sein zu erklären, warum die menschlichen Urteile kontextbezogen falsch sind. Dies kann durch die Identifizierung von kognitiven Verzerrungen, von fehlenden Informationen, von fehlenden Korrelationen und Kausalitätsbeziehungen sowie der unbekannten Bereiche einer gesuchten optimalen Lösung begründet sein. Bei diesem Ansatz könnten Menschen davon profitieren, dass sie von KI-Modellen „verstanden“ werden, was das Vertrauen durch gegenseitige Offenheit und Verständnis fördern dürfte. (Edmonds et al. 2019) KI-Systeme und Roboter haben Schwierigkeiten, mit extrem seltenen und unbekannten Situationen umzugehen. Menschen hingegen können sich schnell neue Fähigkeiten aneignen und ihr Denken über verschiedene Tätigkeiten hinweg verallgemeinern, während sie sich mit Intuition und Fachwissen an neue Bedingungen anpassen. Wichtig ist es deshalb, die Ursachen für die Flexibilität und Übertragbarkeit menschlicher Urteile zu kennen, was dann für die Fähigkeit von Robotern, mit neuartigen, komplizierten und ungewöhnlichen Umständen umzugehen, unerlässlich wäre. (Xiong et al 2022) Doch ob diese Zusammenhänge der menschlichen Kognition, Intuition und der Entscheidungsprozesse in KI-Modellen widerzuspiegeln sind, muss als sehr fraglich gelten. Denn wir haben bereits beschrieben, dass genau dafür die Körperlichkeit des Menschen ein entscheidendes Kriterium ist, ebenso wie Emotionen verschiedenster Art.
Neben dem Framing und Heuristiken haben nämlich auch Emotionen einen großen Einfluss auf unser Denken und unsere Wahrnehmung. Dieser Zusammenhang wurde bereits im vorangegangenen Artikel beschrieben. Auch im Zusammenhang mit dem Umgang mit Komplexität ist das relevant. Vernünftige Entscheidungen, lautet ein Gemeinplatz, müssen mit kühlem Kopf getroffen werden, denn Gefühle und Vernunft schließen einander aus. Demzufolge müsste jemand, der keine Gefühle empfindet, besonders rational sein. Damasio (1994) vertritt hier die These, dass eben diese Ansicht verfehlt ist. René Descartes habe mit seiner Unterscheidung einer denkenden und einer ausgedehnten Substanz die bekannteste Formulierung des Geist-Körper-Dualismus geliefert und ist damit einer der meistzitierten Philosophen. Sein Irrtum, so Damasio, bestand darin, den Geist vom Körper kategorisch zu trennen, anzunehmen, das Denken vollziehe sich losgelöst vom Körper und sei das eigentliche Substrat des Selbst. Damasio stellt dem cartesischen Dualismus drei Thesen entgegen:
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- Die Vernunft hängt von unserer Fähigkeit ab, Gefühle zu empfinden,
- Empfindungen sind Wahrnehmungen der Körperlandschaft
- der Körper ist das Bezugssystem aller neuronalen Prozesse
Die Rolle der somatischen Marker
Das und wie es einen Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und Bewusstsein, und zwischen Bewegung und Wahrnehmung und bewusstem wie unbewusstem Denken gibt, haben wir bereits auf TheEssence in verschiedenen Zusammenhängen und Dimensionen beschrieben. Auf diese Spur brachten Damasio Patienten mit Verletzungen einer bestimmten Hirnregion, des Stirnlappens. Sie zeigten auffällige Veränderungen ihrer Persönlichkeit, auch wenn sie körperlich anscheinend gesundet waren. Obwohl auch ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt schienen, waren sie nicht mehr fähig, ihr Leben zu organisieren. Ihre Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, war weitgehend zerstört worden. Statt nun besonders rationale Entscheidungen zu treffen, konnten diese Menschen sich gar nicht mehr entscheiden. Demnach würde eine Erkenntnistheorie, die Emotionen und Vernunft trennen will, eher das Entscheidungsverhalten eines Hirngeschädigten als das eines Gesunden beschreiben. Aus den Erfahrungen mit seinen Patienten entwickelt Damasio seine Überlegungen zum Zusammenwirken von Körper und Geist. Im Zentrum steht die Hypothese der somatischen Marker. Im Stirnlappen des Gehirns seien drei Fähigkeiten lokalisiert: zielorientiertes Denken, Entscheidungsfindung und Körperwahrnehmung. Letztere, eine Art Momentaufnahme dessen, was im Körper vor sich geht, ist der Hintergrund aller geistigen Operationen. Je nachdem, wie der Körper auf äußere Wahrnehmungen reagiert, das heißt seinen Zustand verändert, verändert sich auch die Körperwahrnehmung. Sie begleitet unsere Vorstellungsbilder, neue wie erinnerte, und markiert sie als angenehm oder unangenehm. Diese Fähigkeit, Körperwahrnehmungen – also „somatische Marker“ – mit Wahrnehmungen zu verknüpfen, ist uns teils angeboren, teils entwickelt sie sich im Zuge der Sozialisation des Individuums. Das hat Bedeutung für das Verständnis von Intuition als unbewusstes Abrufen von Informationen, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Wissen. Alle diese Dinge sind durch körperliche Zustände und Körperlichkeit an sich beeinflusst und strukturiert. Wenn es also darum geht, Intuition abzurufen, sie zu nutzen und sie zu interpretieren, dann spielen hierbei notwendigerweise Körperlichkeit, Körperwahrnehmung und Körperbewusstsein eine unverzichtbare Rolle.
Die somatischen Marker sind nach Damasio die Grundlage unserer Entscheidungen. Sie helfen uns beim Denken, indem sie Vorentscheidungen treffen und uns, ohne dass es uns bewusst würde, indem sie uns in eine bestimmte Richtung drängen, vor Dingen warnen, mit denen wir schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht haben oder unsere Aufmerksamkeit auf etwas Wichtiges lenken. Auf diesem Weg beeinflussen sie eben auch das abstrakte Räsonieren, das wir als gefühlsneutral erleben. Dieses abstrakte und gefühlsneutrale Räsonieren entspricht den Beschreibungen und Definitionen von menschlicher Intuition, die wir ebenfalls zu Anfang dieses Oberkapitels bereits kennengelernt haben. Evolutionsgeschichtlich war unser Körper zuerst da, danach entwickelten sich die einfacheren Fähigkeiten des Gehirns wie die Wahrnehmung des Körperzustands, zuletzt die komplexeren wie abstraktes Denken und Selbstbewusstsein. Dies schlägt sich in unserem Denken noch heute nieder. Die jüngeren Fähigkeiten haben zwar eine gewisse Selbständigkeit erlangt, sind aber durchdrungen von den evolutionär früheren Strukturen, welche auf die biologischen Überlebensinteressen des Organismus fokussiert sind. Geistige Phänomene gehen für Damasio aus dem physiologischen Wechselspiel zwischen Sinnen, Gehirn und Körper hervor. Damasio beschreibt dazu eine komplexe mögliche Architektur des Gedächtnisses, bei der zwei „Gehirnräume“ kooperieren. Der eine kartiert Erlebnisse und kann bewusst wahrnehmbare, geistige Bilder produzieren. Der andere speichert Formeln, nach denen die Gedächtniskarten „retroaktiviert“ werden können.
Kompetenzen und Intuitionen gehören zusammen
Die vorherigen Ausführungen zu Heuristiken, Wahrnehmung, Wissensverarbeitung und Wissensabruf zeigen einen klaren Zusammenhang, dass menschliche Intuition in den allermeisten Fällen mit den Kompetenzen einer Person zu tun haben und nicht von diesen Kompetenzen zu trennen sind. Anders ausgedrückt: Menschen haben gute, im Sinne von richtige, Intuitionen in den Bereichen, in denen sie sich auch im rationalen Denken und Analysieren gut auskennen. Und auch nur in diesen Bereichen können und sollten Menschen ihren Intuitionen Vertrauen. Salas, Rosen und Diaz-Granados (2010) nennen das „kompetenzbasierte Intuition“. Kompetenzbasierte Intuition kann anhand von Entwicklungsmodellen für Intuition und Kompetenz definiert werden. Bereits Baylor (2001) vertrat die Auffassung, dass die Entwicklung der Intuition einer U-förmigen Kurve folgt, wobei die x-Achse das „Niveau der Fachkenntnisse“ und die y-Achse die „Verfügbarkeit von Intuition“ darstellte. Die frühe Nutzung der Intuition wird als „unreife“ Intuition bezeichnet und folgt einem allgemeinen regelbasierten Prozess. Sie basiert nicht auf umfangreichem domänenspezifischem Wissen. In dem Maße, wie der Entscheidungsträger abstraktes, regelbasiertes Wissen über einen Bereich entwickelt, nimmt die Verfügbarkeit von Intuition ab, es ist sozusagen der Scheitelpunkt von Baylors U-förmiger Kurve. In den späteren Phasen der Erfahrung werden Intuitionen aufgrund der gesammelten Erfahrung des Entscheidungsträgers jedoch wieder häufiger anzutreffen sein. Diese Art von Intuition unterscheidet sich qualitativ von der zuvor diskutierten „unreifen“ oder Anfängerintuition, da sie sich auf domänenspezifisches Wissen stützt. Diese Art von Intuition wurde auch von Hogarth (2001) als „gebildete Intuition“ bezeichnet. Daher können wir Intuition auf der Grundlage von Fachwissen als Intuitionen definieren, die in diesen späteren Entwicklungsstadien auftreten, wenn der Entscheidungsträger eine tiefe und reichhaltige Wissensbasis aus umfassender Erfahrung in einem Bereich entwickelt hat.
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